#73: Digital Decluttering III – Digitaler Minimalismus

Bist du bereit zum*r digitalen Minimalist*in zu werden?

In Teil II der Miniserie zum Thema Digital Decluttering (also digitales Aufräumen/Entrümpeln) haben wir einen Digital Detox (= digitales Entgiften) durchgeführt. Ein Detox kann man als ein bewusstes Verzichten auf etwas, das einem nicht guttut, beschreiben. Meistens geht es dabei um das Verzichten über einen bestimmten Zeitraum. Danach kehrt man häufig zum alten Status Quo zurück. Grund dafür sind, dass man zwar zeitweise Dinge sein lässt, eine grundlegende Veränderung, die es bräuchte, um dauerhaft „aufgeräumt“ zu sein, aber ausbleibt. Hier kommt der Digitale Minimalismus ins Spiel, eine Lebensphilosophie, die ich dir heute, im dritten Teil der Digital Decluttering-Miniserie vorstellen möchte.

Zunächst mache ich dich mit sechs Annahmen vertraut. Stimmst du ihnen zu, ist dieser Artikel für dich und du solltest weiterlesen. Wer der Wahrheit hinter diesen Annahmen ins Auge blickt, kann gar nicht umhin, sein Verhalten zu ändern. Digital minimalistisch zu leben ist die radikale Konsequenz aus dem Anerkennen dieser sechs Grundannahmen und dem Willen, sein digitales Verhalten zu revolutionieren.

Die sechs Grundannahmen

1 Im Dutzend schlechter

Als digitale*r Minmalist*in musst du nicht gänzlich auf Apps oder andere Onlinedienste verzichten. Im Gegenteil wissen wir, dass einzelne Apps nicht schlecht sind; sie können sogar äußerst nützlich sein. Es ist die Masse, die uns erschlägt. Es ist einfach alles zu viel. Wir sind übersättigt!

 

2 Apps sind keine tools!

„Tools“, also Werkzeuge im weitesten Sinne, sind so designt, dass sie unseren Alltag erleichtern und wir durch sie Zeit sparen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Spülmaschine, die ganz zurecht in fast jedem Haushalt hierzulande anzutreffen ist. Tools dienen einem bestimmten Zweck. Sie haben keinen eigenen Willen und warten quasi nur darauf, von uns benutzt zu werden. Sie haben eine passive, dienende Funktion.

Apps hingegen sind so designt, dass sie immer mehr Zeit von uns beanspruchen. Apps sind mit Absicht so kreiert, dass sie uns zu bestimmten Handlungen anregen, ja geradezu manipulieren. Ein Beispiel hierfür ist Facebook. Ursprünglich war dieser Onlinedienst dafür gedacht, uns die Kommunikation mi Freund*innen zu erleichtern (das wäre durchaus tool-Charakter). Doch jetzt hält Facebook uns genau davon ab, wenn wir im Restaurant sitzen und wie Zombies durch Startseite und Co. scrollen, um unser fomo auszukurieren, anstatt mit den real vor uns Sitzenden zu reden. Apps/Onlinedienste wie Facebook haben eine aktive, beherrschende Funktion.

3 Das Gegenteil von sozial

Social Media oder Soziale Medien sollten eines auf jeden Fall sein: sozial. Sie sollten die Kommunikation und Verbindung unter den Menschen stärken (s. Punkt 2) anstatt sie zu schwächen. Doch leider tun sie Letzteres viel zu oft. Man kennt die Geschichten von Foren, in denen Unsagbares gesagt wird, oder von Shitstorms, die auf Personen im öffentlichen Leben einprasseln. Vielleicht wurde der ein oder die andere auch selbst schon einmal Opfer von, ich nenne es mal, digitaler Gewalt, die auch und gerade in sozialen Netzwerken an der Tagesordnung ist und durch die Möglichkeit der Anonymität noch gefördert wird. Also: Anonymität statt Achtsamkeit, Anfeindungen statt Anfreundungen finden sich leider viel zu häufig auf SM. Zudem fördert die Nutzung von Social Media das Vergleichen, das nachweislich zu Depressionen oder Angststörungen führen kann sowie zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit oder der fehlenden Kontrolle.

Unsere dunkle Seite

Kurz: Apps können unsere Autonomie schmälern, uns unglücklich machen, unsere dunklen Seiten hervorrufen und uns schlicht von wertvolleren Aktivitäten abhalten. Wenn wir nicht aufpassen!

5 Smombies

Oft genug beherrschen nicht wir unsere Smartphones, sondern unterwerfen uns ihrem Diktat. Wir sind Sklaven unserer Geräte: Apps diktieren uns, wie und mit wem wir unsere Zeit verbringen und sogar wie wir uns fühlen sollen.

Hast du eine App, mit der man die Bildschirmzeit nachvollziehen kann bzw. hast du schonmal deine Bildschirmzeit nachgeschaut? Im Durchschnitt schauen wir 39 Mal am Tag aufs Smartphone und verbringen drei Stunden am Screen. Und das sind alles Daten von Menschen, die ihre Screentime getrackt haben, also schon bewusster sind, d.h.  „echte” Smombies sind gar nicht mit eingerechnet.

6 Zu schnell zu viel

Alles passierte so schnell: Verglichen mit der gesamten Menschheitsgeschichte ist die technische Entwicklung in den letzten 10-20 Jahren rasant fortgeschritten. So rasant, dass wir keine Zeit hatten, uns Verhaltensregeln zu überlegen. Das sieht man nicht zuletzt an den Schulen, wo Kindern ohne Einführung IPads in die Hand gedrückt werden. Und ich meine keine technische Einführung, sondern eine, in denen ihnen die Wichtigkeit von Reflexion und Bedürfniskontrolle beigebracht wird.

 

Diese Grundannahmen führen zu der Ansicht, dass zeitweises Digital Detox nichts gegen die programmierte manipulative Kraft von Onlinediensten ausrichten kann, die unsere Gehirne kontrolliert und unsere Psyche austrickst (siehe hierzu die Dokumentation the social dilemma). Doch das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, denn die Lösung wartet direkt um die Ecke: Wir brauchen eine grundlegende Philosophie zur Nutzung digitaler Technik. Wir brauchen ein Regelwerk! Guidelines, die wir verinnerlichen können, damit wir uns im dichten digitalen Dschungel bewegen können, ohne unterzugehen. Ein gutes Regelwerk sollte auf den eigenen Werten basieren. Die Frage lautet also: Was sind deine Werte?

 „Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches, ja göttliches Leben zu führen.“ - Marc Aurel

 

Was ist Digitaler Minimalismus? Eine kleine Definition

Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit. Wenn ich es mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich dieses wählen. Dafür aber auch gleich dreimal! Digitaler Minimalismus wehrt sich gegen die Macht von Design und gesellschaftlichem Druck und erreicht damit letztendlich ein einfacheres Leben.

In dem lesenswerten Buch Digital Minimalism. Choosing a Focused Life in a Noisy World von Cal Newport, auf das ich meine Ideen hier maßgeblich stütze, heißt es auf Seite 28: “A philosophy of technology use in which you focus your online time on a small number of carefully selected and optimized activities that strongly support things you value, and then happily miss out on everything else.”

Aus der Definition lassen sich drei Kriterien herauslesen: (1) Den Fokus auf eine kleine Anzahl an Diensten zu legen, die (2) sorgfältig ausgewählt wurden auf Basis der eigenen Werte, und (3) alles andere getrost zu verpassen.

Es geht hier also um eine aktive, bewusste Entscheidung!

 

Was machen digitale Minimalist*innen (=DM)?

Drei Tipps, damit du eine*r von ihnen wirst.

1 intention over convenience

DM (Ha! Schon haben wir diese Abkürzung anders geframt 😊) nutzen (nur!) Technologien, die ihre eigenen Werte unterstützen. Das heißt auch, dass sie andere Dienste (nämlich solche, die nicht ihre eigenen Werte unterstützen), links liegen lassen. Manchmal bedeutet das mehr Anstrengung. Aber das ist es ihnen wert, denn sie werden nicht eine maximale Bequemlichkeit an den Tag zu legen, um ihre Werte zu verraten. Ihr Ziel: Langfristige Zufriedenheit statt kurzfristiger Befriedigung.

 2 reflection over connection

DM wägen ab. Sie führen quasi permanent eine Kosten-Nutzen-Analyse durch, oder besser gesagt eine Kosten-BESTERNutzen-Analyse. Denn nur das Beste ist das Beste! Vor allem bei App-Neuankömmlingen wenden sie diese Strategie an, indem sie sich stets fragen: Was bringt mir diese App und was bezahle ich dafür? Nur wenn die Upside (=die Vorteile) überwiegt, sie einen echten Mehrwert von den Diensten erhalten, lassen sie sich darauf ein. Irgendein Nutzen reicht nicht aus, es muss der größtmögliche sein!

 

3 conversation over connection

Und zuguterletzt: DM bewerten die reale Welt höher als die digitale. So simpel diese Einstellung ist, so schwierig ist sie im konkreten Fall manchmal umzusetzen. DM aber wissen, dass ihr wahres Leben im wahren Leben stattfindet und sind sich daher nicht zu schade, gewisse Register zu ziehen. Auf die Gefahr hin, sich im Onlinechat unbeliebt zu machen, weil man dort durch Abwesenheit glänzt, setzen sie alles auf die Anwesenheit vor Ort: DM ziehen das Gespräch in der echten Welt immer der Online-Konversation vor und stellen z.B. während eines Treffens mit Freund*innen ihr Smartphone auf Flugmodus.

 

Okay, hast du verstanden, worum es beim Digitalen Minimalismus geht? Und hast du Lust, es selbst einmal auszuprobieren? Wie wäre es mit einer 30-Tage-Challenge? Und zwar nicht mit dem Ziel, danach wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen (wie beim Digital Detox). Sondern mit dem Ziel, dich und dein aktuelles digitales Verhalten besser kennenzulernen, eventuell zu hinterfragen und anzupassen. Mit dem Ziel, zunächst einmal herauszufinden, wer du digital sein willst und welche Veränderungen du bereit bist anzugehen. Einen Monat lang bewusst Digitalität leben und gucken, was es mit dir macht. Hast du Bock? Los geht’s!

 

30-Tage-Challenge: Digitaler Minimalismus

Inhalt der Challenge: Pausiere 1 Monat lang optionale Tools.

Das ist alles, fragst du dich? Ja, im Prinzip schon! Ich erkläre dir, wie es funktioniert.

 

Was sind optionale tools?

Unter tools verstehe ich sämtliche Onlinedienste, Apps, Websites, Browser, Programme, die du so verwendest und die sich nicht besser unter einem Schlagwort zusammenfassen lassen… Optional ist alles, dessen Entfernung dein tägliches Leben (privat oder beruflich) nicht maßgeblich beeinträchtigen würde.

Wähle aus, welche tools optional sind, und folge dann dreißig Tage lang diesen drei Schritten.

 

Schritt 1: Regeln aufstellen

Führe feste und klare Regeln ein: Halte schriftlich fest, welche tools du gar nicht und welche du unter Einhaltung bestimmter Regeln verwenden willst (welche App darf ich wann & wie benutzen?). Zum Beispiel kannst du dir selbst ein Instagram-Verbot auferlegen, gleichzeitig aber sagen, dass du Facebook jeden Freitag zwischen 8 und 10 Uhr einmal aufrufst. Dieses Regelwerk kannst du während der 30 Tage jederzeit konsultieren, solltest du mal in Versuchung geraten.

 

Schritt 2: Experimentieren

Lass dir gesagt sein: Es kann ein bis zwei Wochen dauern, bis man sich an die fehlende Ablenkung und Leere gewöhnt hat. Hattest du vorher ein erhöhtes Aktivitätslevel in der digitalen Welt, fällt natürlich jetzt erstmal einiges weg. Vielleicht möchtest du Tagebuch über deine Gefühle/die Entwicklung führen?

Deine Hauptaufgabe ist es aber, während dieser 30 Tage aktiv auf Entdeckungsreise zu gehen: Finde heraus, was dir Freude bereitet, was deine Werte sind! Kultiviere qualitativ hochwertige Offline-Aktivitäten, probiere etwas Neues aus, mach etwas, das du in deiner Kindheit gern getan hast, stelle endlich ein Projekt fertig. Du hast wiedergewonnene Zeit. Fülle das Loch!

 

Schritt 3: Entscheiden

Nach dieser Zeit des Verzichts oder der Einschränkung (Schritt 1), in der du dir hoffentlich die Zeit genommen hast, herauszufinden, was du abseits der digitalen Welt gerne tust (Schritt 2), geht es darum, diejenigen tools und Apps wieder in dein Leben zu lassen, die du bewusst dort haben möchtest. Vielleicht hast du dich auch ganz und gar entwöhnt und möchtest nie wieder zurück zu den alten Apps. Umso besser! Falls doch, gibt’s hier zwei Tipps, wie du dich aktiv entscheiden kannst.

 

Red Rope Policy: Stell dir vor, du sitzt am Empfangstresen und managst die Einlasskontrolle: Lass nur die Technologien wieder in dein Leben, die deine Standards erfüllen; Betrachte es von einem minimalistischen Standpunkt aus: Was gibt dir den größtmöglichen Nutzen bei minimalen Kosten? Was ist dir deine Zeit und Energie wert? Entscheide bewusst!

 

Amish Hacking: Die Amisch sind Menschen, die ohne nennenswerten technologischen Fortschritt leben – ein aus unserer Sicht sehr rudimentäres, einfaches Dasein. Doch wir können von ihnen lernen. Wenn es in der Community darum geht, zu entscheiden, ob ein neues Gerät/eine Neuerung eingebracht werden soll, stellen sich die Amisch zwei Fragen:

- Wird es hilfreich oder schädlich sein?

- Wird es unser Leben als Gemeinschaft stärken oder wird es das Gemeinschaftsleben untergraben?

Triff deine Entscheidungen auf dieser Grundlage und du wirst digital glücklich sein!

 

Wende diese drei Schritte von nun an auf jedes neue Tool an, über dessen Anschaffung du nachdenkst (wenn du über die Anschaffung nachdenkst, kannst du dir schon selber auf die Schulter klopfen) und widerstehe vor allem dem gesellschaftlichen Druck.

Wenn du die 30-Tage-Challenge durchlaufen bist, hast du dabei en passant deinen eigenen digitalen Status Quo erschaffen. Dein persönliches Regelwerk, dessen Befolgung dich zur*m digitalen Minimalist*in macht. Bravo!

 

Und was ist mit dem echten Leben?

Von unschätzbarem Vorteil ist natürlich die viele gewonnene Freizeit, die man als DM hat.

Doch, huch, was sollst du damit nur anfangen? Überfordert dich diese Leere vielleicht auch? Dann beherzige diese drei letzten Lessons für dein analoges Leben, das fortan joy sparken soll!

Lesson #1: Qualität! Such dir anspruchsvolle Tätigkeiten an Stelle von passivem Konsumieren.

 

Lesson #2: Heiliges Handwerk! Benutze deine Fähigkeiten, um etwas Physisches zu erschaffen.

Im digitalen Zeitalter geht nach und nach der Tastsinn verloren, dabei ist es wichtig, seine Hände zu benutzen, denn so erforscht der Mensch seine Realität. Zusätzlich muss man sich selbst nicht auf eine Art darstellen, wenn man etwas mit den Händen geschaffen hat. Denn der Gegenstand spricht für sich, zeigt, dass man etwas vollbracht hast. Social Media und unsere Aktivitäten dort sind oft nur ein Ersatz für diese Quelle des Stolzes und der Zufriedenheit, etwas geschaffen und geschafft zu haben.

Wenn man keinen Applaus für eine musikalische Darbietung und keine Anerkennung für einen selbstgebauten Tisch bekommen kann, dann postet man halt stattdessen ein Foto und erhält Likes dafür. Was immer du tust, tu es bewusst und im Einklang mit dem, wofür du stehst.

 

Lesson #3: Gemeinschaftsgefühl! Suche Aktivitäten, die die soziale Interaktion in der echten Welt erfordern.

 

Lesson #4: Slow Media! Leg den Fokus auf hochwertige Inhalt (zum Beispiel News). Lies in voller Konzentration. Leg dazu Zeiten fürs Newschecken fest, die losgelöst von anderen Onlineaktivitäten sind. Oder such einen bestimmten Ort für Newschecken auf, an dem du dich gut konzentrieren kannst, z.B. eine ruhige Ecke im Haus oder dein Lieblingscafé. Downloade Artikel oder Podcastfolgen, sodass du diese unterwegs ohne Einschalten des Internets konsumieren kannst. Erstelle dir Lesezeichen, die dich direkt auf z.B. die Eventseite von Facebook leiten, ohne dass du dazu verleitet wirst, einen Umweg über dein Postfach zu nehmen. Und versprich mir eins: Fall nicht ins Rabbit Hole!

„Nichts bringt uns auf unserem Weg besser voran als eine Pause.“ Elizabeth Barrett Browning

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#72: Digital Decluttering II – Digital Detox